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Gießen 1968 - 50 Jahre danach. Erinnerungen eines Zeitzeugen, Bewertungen und Ausblicke
Quelle: www.lindehe.de
11.06.2023
tünnisttot
Gießen 1968 - 50 Jahre danach
Erinnerungen eines Zeitzeugen, Bewertungen & Ausblicke.
Vorsicht der Text enthält ironische Wendungen!
1. Meine persönliche Ausgangsbasis.
1966 wurde ich 22 Jahre alt. Ich studierte Mathe & Physik für das Höhere Lehramt, sowie die
sogenannten P-Fächer. Ende 1966 gab ich Mathe & Physik auf, stürzte mich nun auf die P-
Fächer.
Geld für meine Tramp-Touren verdiente ich mir, indem ich etwa die Hälfte der
Semesterferien auf dem Bau arbeitete, ab 1966 als Erziehungshelfer in einem Kinderheim,
nun auch während des Semesters am Wochenende. Bis ich 68 dort wegen Teilnahme am
Berliner Vietnamkongreß als Südvietcong rausflog.
Ich war tief eingebettet in die christliche Jugendarbeit des CVJM, leitete zusammen mit
einem Freund, verschiedene Gruppen im Dekanat Kirchberg. Ich erlebte mich als dem
historischen Nazarener, den ich hauptsächlich als Pazifisten und Anarchisten sah,
untertan.
Wenn die bunten Fahnen wehten, zogen wir aus grauer Städte Mauern im Frühtau zu Berge;
oder wir lagen vor Madagaskar, wenn die Affen durch den Wald rasten, und Bolle ließen wir
an Pfingsten nach Pankow reisen.
Dann hörten wir von Väterchen Franz auf der Waldeck:
Tot sind unsere Lieder unsre alten Lieder.
Lehrer haben sie zerbissen,
Kurzbehoste sie zerklampft,
braune Horden totgeschrien,
Stiefel in den Dreck gestampft.
Ich denke heute, daß Väterchen Franz hier irrte. Etwas Wertvolles, etwas Sinnvolles
versinkt nicht für immer im Dreck, wenn die braune Scheiße darüber gegossen wurde - sie
muß aber kräftigst weggespült werden. Nur Feuerwehrschlauch oder Hochdruckreiniger
können das leisten es wird Zeit, endlich überall damit anzufangen!
Damals wichen wir teilweise auf neue Lieder aus, die mein Freund Perry zusammentrug.
Neben Gospels & Spirituals erklang nun, gelegentlich auch Selbstvertontes von Fritz
Graßhoff bei unseren Gruppenabenden und an unseren Lagerfeuern. Der Floh aus dem
Hafen von Bordeaux konkurrierte mit dem Ritter Brunz zu Brunzelschütz, der sich so durchs
Leben furzte. Letzterer wurde für Jahre mein Vorbild.
Georg Kreißler lockte mich zum Taubenvergiften im Park - zum ersten Mal freiwillig - ins
Stadttheater; Emil Mangelsdorff mit Allen Ginsbergs Geheul in die Kongreßhalle.
(Ich konnte bisher nicht feststellen, in welchem Jahr diese beiden Veranstaltungen stattfanden.)
Nach 65 Karl May Bänden, deren letzte 30 ich mir zur Konfirmation gewünscht hatte, kam
mit 16 eine Phase, in der ich alles von Sigmund Freud und anderen Psychoanalytikern
verschlang. Dann kam Wolfgang Borchert Draußen vor der Tür wollten wir mit unserer
Theater & Kabarett-Gruppe aufführen. Es folgten dann die anderen neuen deutschen
Schriftsteller wie Benn, Böll, Grass und die Franzosen Camus & Sartre.
Die Lust auf US-amerikanische Schriftsteller hatte mir gleich beim ersten Versuch Ernest
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Hemingway mit seinem tumben Männlichkeitswahn gründlich verdorben.
Statt dessen begeisterten mich ab ca. 1963 die meisten der großen Russen.
Erst Allen Ginsberg und die anderen Dichter der Beat Generation änderten meine
Einstellung zu den Amis dann wieder.
Aber, egal wo ich auf meinen Tramp-Touren hinkam, ob Formantera oder Marrakesch, die
Beatniks waren gerade schon mal wieder weg.
Meine politischen Ambitionen lebte ich als Redakteur einer kleinen CVJM-Zeitschrift aus, die
wir selbst gegründet hatten. Als ich vor 2 Jahren meine noch teilweise erhaltenen Artikel
und Satiren durchlas, war ich sehr erstaunt über meinen Mut; es war aber auch sehr
deutlich, daß ich damals fest überzeugt war, alles als Christ zu schreiben, der nur Gott
untertan war.
In der Septemberausgabe 66 schrieb ich eine kleine Satire, u.a. zu Bundeskanzler Erhards
Beschimpfung bekannter deutscher Dichter und Schriftsteller als Pinscher & Uhus.
Dies brachte mir einen wunderbaren Hetzartikel im Rheinischen Merkur und ein Schreiben
des BK-Amtes mit der Androhung einer Anzeige ein; auf die Anzeige werde wegen meines
jugendlichen Alters noch mal verzichtet.
Pfarrer Dienst kam 1963 in die Petrusgemeinde in Gießen, blieb bis 1970. Er begeisterte
mit seinem Einsatz für die Jugendarbeit. Wir gestalteten auch mal einen Jugend-
Gottesdienst in Dialogform bei ihm.
Später tat ich mich schwer mit seinen Schriften, in denen er auch die BK kritisierte. Obwohl
ich mich schon längst nicht mehr als Christ verstand, waren die Pfarrer der BK immer noch
Helden für mich, weil sie sich gegen die Nazis zur Wehr gesetzt hatten.
Pfarrer Dienst hatte aber recht, denn dadurch, daß die Angehörigen der BK nach dem
Zusammenbruch des Dritten Reiches ziemlich konkurrenzlos die Leitungspositionen in vielen
ev. Landeskirchen übernahmen, wurde eine innerkirchliche Demokratisierung noch einmal
aufgeschoben. Die BKler waren aufrechte Christen, die sich dem braunen Terror
entgegenstellten Demokrat war aber wohl keiner von ihnen.
Dies war meine Ausgangsbasis beim Beginn der Studentenrevolte.
Anfangs verstand ich mich als Christ & kleinbürgerlicher Anarchist, als Pazifist &
hedonistischer Materialist.
Ab Ende 66 löste ich mich langsam aus dem christlichen Korsett, das mir Stabilität gegeben
hatte, mich aber auch massiv einengte.
2. Der Tod des Untertanen.
Eine Chronologie der Aktionen der Studenten in Gießen habe ich bisher nicht finden können,
lt. Dr. Heinrich Brinkmann fand die erste große Demo (gegen die große Koalition) in
Gießen im November 66 statt.
Ich war so ziemlich bei jeder Demo, jedem Teach-in etc. dabei. Ich hätte gern auch mal eine
große Rede gehalten wie Brinkmann und Delavaux(?). Von Beginn an dominierten die
ausgefeilten Reden einiger SDSler die Versammlungen. Ich erfuhr zwar, daß es noch einige
weitere politische Hochschulgruppen gab, von deren Existenz ich keine Ahnung gehabt
hatte. Sie waren auch alle bis auf den RCDS aktiv bei den Veranstaltungen dabei, hatten
teilweise auch recht gute Redner aber keiner hatte die Brillanz der beiden SDSler; einige
ausländische Kommilitonen sind mir noch in positiver Erinnerung geblieben.
Auch wenn ich keine einzige Rede gehalten, keine Demo organisiert hatte, in den Genuß
einer Anzeige als Rädelsführer kam ich doch bei jeder Veranstaltung, egal, ob ich anwesend
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war oder nicht.
Dies war der Psychologie des Alltags- speziell des Ordnungshüterlebens geschuldet: Mit
meinen 2 Metern, einem Vollbart und stetig wachsenden Haaren war ich eine auffällige
Gestalt, der halt Macht und Autorität zugetraut wurden. Damit es aber nicht zuviel war, wurde
ich in diesen Kreisen als der Jesus von Klein-Linden geführt.
Später, als meine Frau und ich Schöffen waren, erzählte mir mal ein Richter weitere
Kuriositäten dieser Kategorie.
Mehr oder weniger lustig war auch: Ich hatte eine Veranstaltung einfach mal verschlafen, ein
anderes Mal grub ich mit meinem Vater den Garten um, statt Panzer rot anzumalen. Mein
Vater hatte mehrfach angedeutet, daß er bei der Gießener Polizei einen Bekannten habe
es klang immer, als spreche er von einem alten SS-Kollegen. Ich weiß nicht, ob mein Vater,
wie angekündigt, diesen wirklich mal angerufen hat; zurückgezogen wurde keine der
Anzeigen. Sie fielen später aber alle unter die Amnestie.
Zu meiner großen Rede, in der ich nachwies, daß der Kommunismus ein historischer Irrweg
war, und nur der Anarchismus, die Herrschaftslosigkeit, eine wirkliche Befreiung des
Menschen bringen kann, ist es also nie gekommen.
Auch kein anderer hielt diese Rede, weder in Gießen noch anderswo.
Trotzdem bin ich überzeugt, daß die Mehrheit der Studenten und Schüler, die an der Revolte
beteiligt waren, so dachten.
Dr. Brinkmann spricht von etwa 4500 Studenten in Gießen 1968; darunter 400-500
Geisteswissenschaftler, von denen die Revolte ausging.
Der SDS habe zu Beginn 10-15 Aktive gehabt.
Am Trauermarsch zur Ermordung von Benno Ohnesorg am 8. Juni 1967 hätten etwa 1/3
aller Studenten teilgenommen.
Ich gehe davon aus, daß 1968, auf dem Höhepunkt der Aktivitäten, höchsten 10% der
Teilnehmer Mitglieder in politischen Hochschulgruppen waren.
Der große Rest der freien Mitarbeiter waren auch sicher keine Kommunisten, dafür wußten
wir zu klar, daß der große Denker Karl Marx einen Riesenfehler gemacht hatte, als er die
Diktatur des Proletariats ersann. Wo sollten sie denn herkommen, die edlen Proletarier, die
diese Aufgabe erfüllen konnten? Gerade wenn die Marxsche Analyse der Gesellschaft richtig
war, konnte es die persönlich integren Charaktere gar nicht geben, die eine Diktatur ausüben
sollten, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.
Stalin, Mao, Pol Pot & alle anderen kommunistischen Menschenschlächter waren kein
Betriebsunfall im System Marx sondern die zwangsläufige Folge.
Für mich hatten die edlen Proletarier von Karl Marx große Ähnlichkeit mit den edlen Wilden
von Karl May beide existierten nur in der Fantasie der Autoren.
Nach meinem Erleben war für die große Mehrzahl der Protestierenden die Realität in der
BRD, in der Faschisten weiterhin kräftig politisch mitmischten, viel wichtiger als ferne
kommunistische Systeme.
Warum war mein Vater in der SS? Was hat er in Polen (als Eisenbahner) getan?
Warum wurde der braune Mob nicht aus den Dörfern und Städten verjagt, als er noch ein
kleiner Haufen war?
Wie muß ein Staat organisiert sein, damit er nicht in der nächsten Krise dem faschistischen
oder kommunistischen Terror zum Opfer fällt?
Diese und ähnliche Fragen waren für mich und meine Freunde wesentlich wichtiger als eine
sozialistische Revolution.
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Dann kam natürlich für alle die ganz reale Bedrohung des täglich möglichen Atomkrieges
dazu. Später haben wir bestätigt bekommen, daß wir nicht paranoid waren sondern einige
Male nur ganz knapp an der Selbstvernichtung der Menschheit vorbeigeschrammt sind.
Auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte herrschte, nach meiner hier sehr optimistischen
Wahrnehmung, Übereinstimmung, daß Kriege und Waffengewalt in keine Phase der
menschlichen Geschichte etwas Positives erbracht hatten, daß sie deshalb klar zu ächten
seien. Man sprach von Rüstungswahnsinn, leider behandelte man aber Militärs und
Rüstungslobbyisten nicht als Wahnsinnige.
Dennoch schien in der deutschen Politik noch lange klar zu sein, daß Deutschland nie
wieder in einem Krieg kämpfen dürfe. - Was ist bis heute daraus geworden?
Schätzungsweise mehr als 95% aller Aktiven der Revolte waren Kleinbürger- &
Bürgerkinder, die wenigen Arbeiterkinder, die damals studierten, taten dies brav weiter als
gäbe es keine Studentenrevolte um sie rum.
Aus der Geisteswissenschaftlichen Fakultät nahmen vielleicht ein Drittel ziemlich regelmäßig
an den Aktionen teil, gelegentlich engagierten sich vielleicht zwei Drittel.
In allen anderen Fakultäten gab es jeweils nur vereinzelte Aktivisten.
Nach meiner Erinnerung waren iranische Studenten, die die Diktatur des Schahs erlebt
hatten, überdurchschnittlich oft vertreten; später auch griechische Kommilitonen, die nach
dem Obristenputsch am 21.04.1967 ihr Land verlassen hatten.
Auch einige Professoren & Professorinnen standen offen auf Seiten der Studenten. Horst-
Eberhard Richter und Helmut Ridder möchte ich hier als Beispiele für Gießen nennen.
Die Gießener Studentenbühne wurde von Carlos
..(?), einem Südamerikaner
(Kolumbianer?), geleitet. Gespielt wurde König Ubu.
Fritz Vahle und Ulrich Freise spielten und sangen als Ulli & Fredrik in Gießen und auf der
Waldeck.
Zunehmend beteiligten sich Schüler & Schülerinnen an den Demos etc. Sie konnten m. E.
weitgehend der Hedonisten-Fraktion zugeordnet werden, die ich mit gut 20% der Aktiven
annehmen möchte.
Die Studentenrevolte der späten 60er Jahre war sicherlich eine internationale
Jugendbewegung der westlichen Welt, es gab aber deutliche nationale Unterschiede.
Während z. B. die Pariser Studenten teilweise starke Sympathien in der Bevölkerung
genossen, schlugen uns in der BRD eine tiefe Ablehnung, auch Haß und Wut entgegen.
Aufgeputscht von den Haß- und Hetztiraden der Springerpresse hatte eine übergroße
Mehrheit der Bevölkerung die Scheuklappen herunter gelassen und schrie uns an, doch
rüber zumachen in die DDR sie sagten Zone. Daß wir ein solches System wie in der DDR
genau so wenig wollten, wie den latenten Faschismus in der BRD, drang nicht durch die
Springerschen Hetzparolen.
Warum eigentlich dieser Haß, diese Wut?
Stellen Sie sich einmal vor, sie sitzen gemütlich im Wohnzimmer und quatschen so mit der
Familie vor sich hin.
Plötzlich rumpelt es mächtig im Vorgarten Ihre Hauswand hält zwar die vom Weg
abgekommene Dampfwalze auf aber die Gartenzwerge sind nicht mehr zu retten, nur noch
Krümel, die keiner mehr zusammenkleben kann. Wären Sie dann nicht stinksauer und
wütend?
So in etwa erging es den Kleinbürgern & Bürgern der BRD als die Studentenproteste sie
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völlig unvermittelt und unvorbereitet trafen.
Der typisch deutsche Untertan, seit mehr als 300 Jahre herangezüchtet, war von den
Studenten zertreten und zerbröselt worden.
In anderen Ländern kämpften die Studenten um klare und begrenzte Veränderungen, gegen
den Vietnamkrieg, um Verbesserungen im Studienalltag, um Entmachtung der alles
überwuchernden Verwaltungsorgane. In manchen Ländern standen sie direkt gegen die
Diktatoren.
Das dafür notwenige Zerbrechen des Korsetts wurde überwiegend positiv empfunden, es
gab teilweise auch Zustimmung in der Gesamtgesellschaft.
Die Menschen der BRD allerdings waren begeistert Adenauers Untertanen. Direkt nachdem
sie noch begeisterter Hitlers Untertanen gewesen waren. Adenauer und die BRD hatten sie
davor bewahrt, irgend etwas grundlegend ändern zu müssen, sich für irgend etwas aus den
12 Jahren verantwortlich fühlen zu müssen, irgend etwas bereuen zu müssen.
Sie hatten ja immer nur ihre Untertanenpflicht getan und taten sie jetzt weiter.
Und genau diesen Untertanen hatte schon der erste Schwung der beginnenden Revolte
zerstört. Vielen wurde es damals immer deutlicher, daß der Haß auf die Studenten hier seine
Ursachen hatte, der Angst vor der Veränderung entsprang.
Vom deutschen Kleinbürger und Bürger wurde die Zerstörung des Korsetts nie als befreiend
erlebt, immer nur angstauslösend.
Die Studenten wurden als Nestbeschmutzer beschimpft und das am Heftigsten von denen,
die am liebsten in ihrer braunen Scheiße sitzen bleiben wollten!
Wir haben keines der ausformulierten großen Ziele erreicht Verhinderung der
Notstandsgesetze, Beendigung des Vietnamkrieges, etc. dennoch war die Revolte so
machtvoll, daß sie erhebliche positive Auswirkungen in die Gesamtgesellschaft hatte und
noch heute hat.
3. Der Zerfall der Solidarität.
Und was taten wir Kleinbürger- & Bürgerkinder nun, nachdem wir uns aus dem
Untertanendasein befreit hatten?
Fast jeder von uns hatte mehr oder weniger große Problem mit der neu gewonnenen
Freiheit.
Einige warteten als verzweifelte Zauberlehrlinge auf die Rückkehr des Meisters, andere, die
ohne Korsett, ohne Einbindung in eine Ideologie, nicht leben konnten, schufen sich starre,
immer verrücktere Politsysteme die politische Fraktion der Revolte atomisierte sich selbst
in die Absurdität und die Bedeutungslosigkeit.
Dies geschah auch mit einem Teil der Hedonisten-Fraktion, die Gurus mußten ebenfalls
immer verrückter, immer esoterischer sein.
Sehr merkwürdig wirkte auf mich das Verhaftetsein dieser beiden Gruppen mit dem
kleinbürgerlichen Kitsch als Lebensform. Das Herz ging mir auf, ich fühlte mich sofort
sauwohl, wenn ich eines ihrer Zimmer betrat. Der röhrende Hirsch überm Sofa war einem
Che oder Mao oder einem grinsenden Buddha gewichen. Die liebevoll gehäkelten Deckchen
meiner Mutter, die sie auf jedem waagrechten Fleckchen im Wohnzimmer drapiert hatte,
waren ersetzt durch liebevoll ausgemalte Mandalas oder revolutionäre
Flugblättersammlungen etc.
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Ein weiterer Teil der Hedonistenfraktion flippte aus an der Freiheit stürzte sich in immer
waghalsigere Experimente mit Psychotomimetika, um am Ende in der Drogenabhängigkeit
zu verdämmern. Auf dem langen Marsch nach Poona & Kathmandu machten nun einige
dauerhaft Rast in den Psychiatrien.
Die, die ihre östlichen Wunschziele erreichten und auch dort blieben, kann ich bis heute nicht
verstehen es sei denn, daß Dauergebrauch von Haschisch und Psychotomimetika die
soziale Intelligenz absterben lassen.
Wenn ich länger in Indien geblieben wäre, wäre vielleicht eine Art Bruder Theresius aus mir
geworden, niemals ein Erleuchteter weil ich anders das hausgemachte soziale Elend nicht
ertragen hätte. Den Zeitungsmüll am Straßenrand bis dieser anfing sich zu bewegen und
Menschen daraus hervorkrochen, die darin wohnten.
Im Westen sozialisierte Hippies schaffen es aber, neben dem Elend ihren Ashram zur
Erlangung der persönlichen Erleuchtung aufzubauen, einen Raum fürn Arsch.
Die später dann ihre Lebern und Hirne zerschossen falls sie nicht schon vorher den
goldenen Schuß erlebt hatten gehörten schon einer anderen Generation an. Sie hatten
nicht an der Studentenrevolte teilgenommen.
Einige wenige aus der Politfraktion verloren völlig den Bezug zu Raum und Zeit; die RAF und
andere Politbanden wähnten sich wohl im Wilden Westen. In einer Zeit der allgemeinen
Demokratisierung in der BRD haben diese wenigen geistig Verwirrten mehr für den
Demokratieabbau erreicht, als alle BRD-Innenminister zusammen. Aber genau das wollten
diese Polit-Idioten ja. Aus Gießen war da m. W. nie jemand dabei.
Der größte Teil der revoltierenden Studenten war aber in der Lage den persönlichen und den
gesellschaftlichen Gewinn auszuhalten, für sich umzusetzen und auch weiterhin politisch und
gesellschaftspolitisch zu wirken.
Wir beendeten das Studium, wenn es Zeit war, und wir suchten uns eine Arbeit, in der wir
nicht nur stumpfsinnig vor uns hin dämmerten.
Es ist hier nicht der Platz, alles zu beschreiben, was die Revolte bewirkt, verändert und auch
erst neu sichtbar gemacht hat. Auch vieles von dem, was außer dem Genannten von den
Studenten schon direkt angesprochen und bearbeitet wurde, findet hier keine Erwähnung.
Für mich ist der Tod des deutschen Untertanen der wichtigste Aspekt der Studentenrevolte
und ich bin auch heute noch ein bißchen stolz darauf, mit dazu beigetragen zu haben, daß
wir heute nicht in einer gelenkten Demokratie rheinischen Frohsinns und putinscher Prägung
leben müssen.
Die Menschen der DDR haben diese Revolte nicht erlebt, sie hatten, nahtlos an den
Faschismus anknüpfend, noch eine Diktatur zu ertragen. Und als sie sich daraus befreit
hatten, wurde ihnen ihr Erfolg von westdeutschen Machtpolitikern gestohlen.
Es verwundert nach 56 Jahren durchgängiger Diktatur nicht, daß besonders viele junge
Menschen aus der EX-DDR ein so schwaches Ich haben, daß sie das starre Korsett der
faschistischen Diktatur suchen.
Die Studenten- und Jugendrevolte der späten 60er Jahre hat in der BRD in jede
gesellschaftliche Entwicklung hineingewirkt; teilweise wurden sehr positive Veränderungen
erreicht und bis heute gehalten.
Ich will hier nur ein Bespiel anführen die Juristen.
Ich hatte mit der Justiz auf drei Ebenen zu tun; zuerst als Dauerangeklagter, dann
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gelegentlich arbeitsbedingt als sachverständiger Zeuge und zum Schluß 3 Perioden als
Schöffe.
Nach meinem Eindruck haben wir ab ca. 1975 erstmals in Deutschland eine wirklich
unabhängige Justiz. Hier wird kein Richter mehr in vorauseilendem Gehorsam die von der
Obrigkeit erwünschten Urteile produzieren!
Große Probleme sehe ich in dem immer stärkeren Mißbrauch der verschiedensten
Religionen für faschistische und andere menschenverachtende Zwecke.
Bis heute gibt es in keiner Religionsgemeinschaft, mit Ausnahme der evangelischen
Landeskirchen der BRD, innere demokratische Bestrebungen.
Im Gegenteil: Kreationisten, IS und viele andere fundamentalistische Strömungen versuchen
immer gewaltsamer, die Menschen zu ihren Untertanen zu machen.
Dies hat dazu geführt, daß mir heute ein ordentlicher Heide fast immer sympathischer ist
als ein religiöser Mensch.
Jeder ordentliche Heide weiß, daß er nur ein Leben hat und keiner wird sich von
religiösen, nationalistischen u. a. Fanatikern verführen lassen, dieses Leben zu vergeuden!
Kein ordentlicher Heide bricht einen Krieg vom Zaun, weil sie im Nachbarland anders rum
liegen beim Beten; keiner beginnt einen Bürgerkrieg, weil der Nachbar sein Brot mit Leber-
statt mit Blutwurst belegt!
Ein ordentlicher Heide weiß in der Regel auch, daß er nur dann Glück erlangen kann, wenn
seine Mitmenschen auch glücklich sind; er verfügt also über gute soziale Intelligenz.
Erschreckend ist aber auch die immer offenere Rückkehr zur deutschen militärischen
Großmannssucht. Es gibt heute keine politische Partei, die dem Schwachsinn, daß
Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt werden muß, etwas Konstruktives
entgegenzusetzen hat. Solange Die Linke eine Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur
verweigert, sondern in großen Teilen eher eine Nachfolgeorganisation ist, sollte sie sich in
Fragen der militärischen Präsenz doch lieber mal an die eigene Nase fassen.
Das stetige Anwachsen der (auch der deutschen) Rüstungsindustrie hat natürlich dazu
beigetragen, daß immer mehr regionale und immer größere Kriege stattfinden müssen.
Die Rüstungsindustrie macht nur dann Riesengewinne, wenn die Rüstungsgüter auch
verbraucht werden und erneuert werden müssen. Nicht immer läßt sich Überalterung
herbeireden.
Berechtigterweise werden die vielen Waffen, die sich in den USA in Privatbesitz befinden, als
Ursache der sehr hohen Todesraten durch Schußwaffengebrauch angesehen warum kann
die Tatsache, daß Kriegswaffenproduktion die Kriege erst auslöst, immer noch so erfolgreich
verdrängt werden?
Vielleicht ändert es ja etwas, daß jetzt die Flüchtlingsmassen die wir mit deutschen
Kriegswaffen mitgeschaffen haben, zu uns nach Deutschland strömen!
Nachdem sich mehrere Staaten zusammen getan haben, um offensiv gegen die Macht der
Tabakindustrie vorzugehen, wurde dies doch zwar zuerst zögerlich inzwischen auch
möglich. Mit inzwischen erfolgten und akzeptierten Veränderungen im öffentlichen und im
privaten Bereich.
Wie lange wird es noch dauern, bis sich Staaten zusammen tun, um die Gewinne der
Rüstungskonzerne abzuschöpfen zur Finanzierung der von den Konzernen angerichteten
weltweiten massiven Schäden?
Große Sorgen bereitet auch die wirtschaftliche Entwicklung. Noch immer wird die Utopie
des ewig währenden Wachstums als goldenes Kalb unserer Zeit hirnlos umtanzt.
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Große Konzerne lachen sich ins Fäustchen über die Gesetze demokratischer Staaten; ihre
wirtschaftliche Macht erlaubt es ihnen längst, Gesetze einfach zu ignorieren, Steuern einfach
nicht zu zahlen, und in vielen Staaten sich genehme Regierungen zu kaufen.
Große Internetfirmen haben längst die alten, wohlbewährten Gesetze des Handels zu ihren
Gunsten auf den Kopf gestellt. Der Datenschutz wird systematisch ausgehebelt, um
willenlose Kunden zu generieren auch eine Form des Untertanentums.
Über chinesische Firmen habe ich vor kurzem gelesen, daß sie generell nur gute Untertanen
gebrauchen können und nur solche einstellen, bzw. heranzüchten.
Und zu allem Überfluß finden sich demokratisch gewählte Politiker, auch aus Deutschland,
die in geheimen Verhandlungen demokratische Rechte an den internationalen Handel
verscheuern. M. M. begehen sie hier ein Verbrechen an der Demokratie.
Und übrigens: eine Demokratie darf keine Geheimverhandlungen, keine Geheimdienste etc.
schaffen.
Einen Wunsch zum Abschluß: Nach Gustav Heinemann, der 1950, schon nach einem Jahr
als Innenminister zurück trat, wünsche ich mir endlich mal wieder einen deutschen
Innenminister, der sich nicht qua Amt als Feind der Verfassung versteht, der nicht versucht,
durch immer weitere Aushöhlung und Zerstörung der Verfassung die BRD vor Extremismus
und Terrorismus zu retten.
Am 31.01.1973 endete für mich die Revolte; ich zog zum letzten Mal an einem Joint.
Am 1. Februar begann ich eine Ganztagstätigkeit.
1975 heiratete ich und begab mich in die liebevollen Hände meiner Frau dieses
Untertanendasein war frei gewählt.
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Teile in Kursivschrift sind Zitate und geflügelte Worte. Manches dient auch der Hervorhebung.
Für die zeitliche Einordnung der Ereignisse stand mir der Text eines Interviews mit Prof. Dr. Heinrich Brinkmann vor etwa 10
Jahren zur Verfügung im Internet.
Die Liedzeilen von Degenhart sind dem Internet-Artikel DAS WALDECK KONZIL, 2006, von Ulrich Freise (Elster Silberflug)
entnommen.
Dieser Text wäre nicht entstanden, wenn ich als Rentner das machen könnte, was wir/ich geplant hatten: Viele Reisen, viel
Angeln, viel Pilze sammeln usw.
Leider habe ich mich vor einigen Jahren Hals über Kopf so intensiv in einen Rollstuhl verliebt, daß ich bis heute nicht wieder von
ihm lassen kann.
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Kategorie: Bibliographie
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